Latein

Die entscheidende Klassenarbeit

Eine wahre Geschichte aus dem Jahr 1980 anlässlich der Feier zum 125-jährigen Bestehen meines Gymnasiums in Salzgitter-Bad.

Caesar

Wir schreiben das Jahr 1980. Für die zehnten Klassen des Gymnasiums Salzgitter-Bad geht es um die Versetzung in die Oberstufe. Die damalige Regelung besagte, dass man mit viermal Note 4 in den Hauptfächern Deutsch, Englisch, Latein und Mathe nicht versetzt wird. Mindestens eine „3“ sollte dabei sein, wobei eine „5“ durch eine „3“ ausgleichbar war. Dies als Prolog zum nun folgenden Drama in 5 Akten, einer unglaublichen, aber wahren Geschichte aus der Stadt, in der ich aufgewachsen bin.

Caesar

1. Andrea, Petra und Frau Schmidt

Kommen wir zu unseren Protagonisten und nennen sie Andrea und Petra (Namen vom Autor geändert). Petras Note 4 in Deutsch, Englisch und Mathe stand fest. Letzte Chance war somit eine 3 auf dem Zeugnis in Latein, ihrem schwächstem der vier Hauptfächer. Mit einer 1 oder 2 in der letzten, alles entscheidenden Klassenarbeit war dies noch möglich. Andreas Situation war ähnlich aussichtslos.

Neben einer langen Freundschaft einte die zwei, dass sie bei der vorherigen Klassenarbeit von ihrer Latein-Lehrerin – nennen wie sie Frau Schmidt – beim Schummeln erwischt wurden. Bei Petra war es ein kleines Wörterbuch „Latein – Deutsch“ unter dem Tisch. Dies führte dazu, dass beide für die letzte Arbeit abseits der restlichen Klasse in eine Ecke des Klassenraums verbannt wurden, was ihnen zum Verhängnis wurde.

2. De bello Gallico - Der Gallische Krieg

Wie schon bei früheren Latein-Klassenarbeiten waren Texte aus Caesars De bello Gallico – Der Gallische Krieg zu übersetzen. Da diese von Frau Schmidt mit Kapitel angekündigt wurden, hatten viele ihre gelben Reclam-Hefte mit deutscher Übersetzung dabei und mussten einmal pro Arbeit auf die Toilette, um die entsprechende Seite zu finden und herauszureißen.

Den Rest kann man sich vielleicht denken. Übersetzung abgeschrieben, ein paar kleine Fehler extra eingebaut und Note 2 oder 3 war sicher. Natürlich gab es auch Schüler/innen mit so guten Latein-Kenntnissen, dass diese Maßnahmen nicht erforderlich waren.

Der entscheidende Tag war gekommen. Andrea und Petra nahmen in ihrer „Straf-Ecke“ den zu übersetzenden Text entgegen, während bereits ein Raunen durch den Raum ging und sich zumindest bei denen ohne fundierte Latein-Kenntnisse eine gewisse Schockstarre einstellte.

3. Kapitelüberschrift? Fehlanzeige!

Was war geschehen? Frau Schmidt hatte offensichtlich dazu gelernt und den zu übersetzenden Text ohne Angabe des Kapitels ausgeteilt. Verdammt, wie sollte man das relevante Kapitel auf 363 Seiten jetzt finden? Ohne die Übersetzung waren Andrea und Petra wie auch ein Großteil der Klasse chancenlos.

Immer wieder kehrten verzweifelte Gesichter erfolglos von der Toilette zurück. Als sich dies änderte und der Rest der Klasse bereits am Schreiben war, hatte Andrea und Petra die rettende Info noch nicht erreicht. Die Zeit war fast abgelaufen. Schließlich entdeckte auch Andrea bei einem letzten Gang auf der Toilettenpapierrolle Nummer und Seitenzahl des zu übersetzenden Textes und ließ Petra teilhaben.

Hektisch schrieben beide ab und hatten kaum Zeit, Fehler einzubauen. Die Schulglocke läutete zur Abgabe und bei anschließenden Gesprächen im Pausenhof hörten Andrea und Petra mit Entsetzen: „Fies von der Schmidt, oder? Erst lässt sie das Kapitel und dann noch den Satz in der Mitte weg. Vielleicht, weil er für uns zu schwer gewesen wäre?

4. Der fehlende Satz

Bitte? Welchen Satz in der Mitte, fragten sich Andrea und Petra? Das war ihnen unter dem Zeitdruck entgangen. Ihre Übersetzung enthielt somit auch diesen Satz. Na dann gute Nacht, das war’s. Die 6 war sicher, ebenso wie bestenfalls die 4 im Zeugnis und die damit verbundene Wiederholung der Klasse 10. Während Petra sich bereits damit abgefunden hatte, kam ihrer Freundin eine Idee aus der Kategorie verzweifelter Wahnsinn.

Im Sinne von carpe diem meinte Andrea, sie könnte Frau Schmidt doch sagen, dass von dieser Klassenarbeit ihre und Petras Versetzung abhängt und sich beide intensiv darauf vorbereiten mussten. Bedeutet, der ganze Gallische Krieg – zur Erinnerung: 363 Seiten – wurde intensiv gelesen bis hin zu auswendig gelernt. Natürlich habe man gesehen, dass mittendrin ein Satz fehlt, ihn aber trotzdem zu Papier gebracht.

5. Hoch gepokert

So also der Plan vor dem Gang zum Lehrerzimmer mit vermutlich hochrotem Kopf. Mit der Frage, ob die zwei für den zusätzlichen Satz zusätzliche Punkte bekommen könnten, wollten sie sich etwas Verhandlungsspielraum verschaffen. Frau Schmidt war anscheinend so perplex, dass sie erwiderte, diesem Wunsch nicht nachkommen zu können, den außerordentlichen Einsatz der Vorbereitung aber würdige.

Mit nach außen hängenden Köpfen aber innerlich triumphierend schoben die zwei wieder ab. Einige Tage später: Selbst nach 45 Jahren erinnert sich Petra an die abschließende Bewertung unter der Klassenarbeit: „Sehr frei übersetzt, aber gut. Note: 2“. Alea iacta est. Die Würfel waren gefallen, ein Wunder war geschehen und die 3 auf dem Zeugnis gesichert.

Der Preis, den Petra dafür seit Jahrzehnten zahlt, sind Alpträume, dass sie nicht hätte a) in die Oberstufe versetzt werden und als Folge b) nicht Abi machen, c) BWL studieren, d) Examen machen und e) ihren Job als Akademikerin ausüben dürfen. Wobei ähnliche Ereignisse während des Studiums weitere Traum-Stolpersteine für d) und e) lieferten.

Fazit, Festschrift und Feier

Ähnlich Heinz Rühmanns „Feuerzangenbowle“ ist diese Geschichte so unglaublich, dass sich Petra in der Vergangenheit kaum traute, diese zu erzählen. Anlässlich des 125-jährigen Jubiläums ihres Gymnasiums bricht sie 45 Jahre später ihr Schweigen und macht eine Ausnahme.

Alle Namen wurden zum Schutz der Protagonisten geändert, um Spätfolgen wie eine Aberkennung des Abis zu vermeiden. Auch soll kein schlechtes Licht auf die sympathische, junge Lehrerin fallen, der damals offensichtlich neben Erfahrung auch Durchsetzungsvermögen fehlte.

Weitere Geschichten aus der Schulzeit unserer Klasse 10L1 von 1976 bis 1980 haben Petras Mitschülerinnen – nennen wir sie Ellen und Angela – zusammengetragen. Mal schauen, ob wir die Festschrift zum Jubi­lä­um unseres Gymnasiums damit bereichern können. Zu schade, dass ich wegen der zeitgleichen Tischtennis-Senioren-EM in Novi Sad im Juni 2025 an den Feierlichkeiten meines Gymnasiums nicht teilnehmen kann.